Passung durch Rückkopplung. Konzepte der Selbstregulierung in der Prothetik des Ersten Weltkriegs
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Die Prothetik der Zwischenkriegszeit wird in dem Beitrag als ein Labor zur Entwicklung einer „kybernetischen Anthropologie“ konzipiert. Einer Anthropologie, die keine mehr ist, da sie sich von der Sonderstellung des Menschen in Relation zum Tier oder zur Maschine verabschiedet, die jedoch auf besondere Weise mit dem Leben rechnet, nämlich mit dem Lebewesen, als einer sich im Umweltbezug selbst regulierenden, signalverarbeitenden Entität, die danach strebt, (wieder) ins Gleichgewicht zu kommen. Die Prothetik interessiert hier als ein interdisziplinäres Wissensgebiet, das sich mit der psychischen und physischen Re-Zentrierung der Kriegsversehrten beschäftigt und dabei kybernetische Modelle in nuce entwickelt. Als Beispiel dient die Forschung der Prüfstelle für Ersatzglieder in Berlin, die bis 1919 in patriotischer Absicht die Modernisierung des Prothesenbaus sowie der Rehabilitation im Ganzen betrieb und dabei die avanciertesten Wissensbestände der Medizin, der Arbeitswissenschaften, der Ingenieuerswissenschaften und der angewandten Psychologie in eine produktive Nachbarschaft brachte. 1. Die Prüfstelle für Ersatzglieder als Modellfall interdisziplinärer Forschung Der Beitrag untersucht die Prothetik des Ersten Weltkriegs als einen Modellfall interdisziplinärer Forschung zwischen Medizin und Ingenieurswissenschaften um davon ausgehend Überlegungen dazu anstellen, inwiefern hier bereits zentrale Konzepte der Kybernetik in nuce entwickelt wurden. Hierfür soll die Prüfstelle für Ersatzglieder in Berlin Charlottenburg vorgestellt werden, die 1916 als gemeinsames Unternehmen der TU-Berlin und der Charité gegründet wurde und als Public-Private-Partnership durch Spenden der Großindustrie, der Kaufmannschaft, der Handelskammer, durch Unterstützung der Ministerien des Krieges, des Inneren und der öffentlichen Arbeit sowie durch die Städte Berlin und Charlottenburg finanziert wurde. Die selbstgesetzte Aufgabe der Prüfstelle und der Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren, Medizinern und Psychologen bestand darin, die Prothesenversorgung für Kriegsversehrte zu optimieren und die Produktion von Prothesen zu standardisieren. Es ging zunächst darum, Prothesen, die in Deutschland bis dahin in Handwerksbetrieben individuell gefertigt wurden, nach Maßgaben industrieller Produktion neu zu konzipieren. Der Weg dahin führte über die Maschinentheorie und die wissenschaftlichen Betriebsführung zur Modularisierung der Prothese, wie wir sie heute kennen. Der Leiter der Prüfstelle, Georg Schlesinger – Professor für Werkzeugmaschinen und Fabriksbetriebe an der TU-Berlin – war als Maschinenbauingenieur bei Franz Reuleaux ausgebildet worden. Im Mittelpunkt von Releaux’ Arbeit war die systematische Lehre von den Maschinenbewegungen gestanden, insbesondere von Ketten und Gliedern. Schlesinger führte die mathematischdeduktiven Systeme Releaux’ experimentell weiter und hatte seit seiner Arbeit in der Werkzeugfabrik Ludwig Loewe AG in Berlin Moabit die Herstellung von Maschinen zur Herstellung von Maschinen im Blick: Er typisierte und normierte Werkzeugmaschinen. Er richtete ein Versuchsfeld ein, in dem er sich ganz der Normierung und Präzisierung von Passteilen widmete: Sein ganzer „Normenfanatismus“ (Schlesinger über sich selbst) ist auf die Austauschbarkeit aller Maschinenteile und glieder, eben auf eine „Logik der Ersetzbarkeit“ gerichtet, die ihre Wirkung in der Standardisierung der kleinsten Teile entfaltet. Die Loewe AG errichtete als Resultat dieser Anstrengungen eine „Normalienfabrik“, in der Verbindungsund Anschlusstücke (Griffe, Nuten, Schrauben und Kurbeln) hergestellt wurden. Schlesinger trat außerdem mit international höchst beachteten Veröffentlichungen zur wissenschaftlichen Betriebsführung (also dem Taylorismus) und zur Psychotechnik hervor und entwickelte als Fabriksleiter der Gewehrfabrik in Spandau zeitgleich zu seiner Tätigkeit in der Prüfstelle für Ersatzglieder die berühmte MG 0815. 2. Rehabilitation als Passung Das Ziel der Rehabilitation der Kriegsversehrten hatte zwei Fluchtpunkte – Unauffälligkeit und Produktivität – die in jeweils unterschiedlichen Ideen der Prothese münden: Auf der einen Seite der Versuch, durch die realistische Nachahmung von Körperteilen mithilfe kosmetischer Prothesen – die so genannten „Sonntagshände“ oder auch naturalistische mechanische Gliedmaßen wie den Carnesoder Sauerbrucharm – das soziale ‚passing’ der Kriegsversehrten zu gewährleisten; auf der anderen Seite die durch Maxime der Ingenieursund Arbeitswissenschaften angeleitete, funktionale Passung von Menschund Maschinenkinetik, die sich bis in muskelkrafterhaltende Amputationstechniken fortsetzten. Solche Methoden waren im Gefolge des Abessinienkrieges in Italien unter der Bezeichnung ‚kineplastische Amputation und Prothetik’ entwickelt und im Anschluss von deutschen Chirurgen wie Ferdinand Sauerbruch und Friedrich Ernst Krukenberg in den Feldlazaretten des Ersten Weltkrieges perfektioniert worden. Aber nicht nur die Chirurgie, sondern auch die Prothetik erlebte im Ersten Weltkrieg einen Innovationsschub in Bezug auf Material und Machart (z.B. der Mechanik der Gelenke) aber auch in Hinblick auf Herstellungsund Anpassungsverfahren: Seither ist die modularen Fertigung von Einzelteilen nach tayloristischen Prinzipien und deren Anpassung im Zuge der Rehabilitation gängig. Weiters konnten sich die orthopädische Medizin und Technik sowie die Rehabilitationswissenschaften mit ihrem umfassenden sozialtechnischen Programm als eigenständige Wissenschaftszweige etablieren. Dieser Innovationsschub wurde von einem anschwellenden patriotischen Singsang begleitet, dem es um die Wiederherstellung, oder je nach Perspektive: um eine Konservierung, der wilhelminischen Vorkriegsverhältnisse, mit ihrer ständischen Gliederung der Gesellschaft ging. So waren die allermeisten Programme der „Krüppelfürsorge“ zunächst damit beschäftigt, Prothesen herzustellen, die es den Kriegsversehrten erlauben sollten, genau jene Erwerbsarbeit wiederaufzunehmen, die sie vor dem Krieg inne hatten; ein Unternehmen, das sowohl technisch als auch sozialpolitisch scheitern sollte. 1 Zur sozialpolitisch konservierenden Funktion der Prothetik vgl. [Pe02]. Analog zu Schlesingers Normalisierungsbemühungen galt in der Prüfstelle der Typisierung von Prothesen und der Standardisierung von Anschlussnormen, insbesondere bei den so genannten Arbeitsarmen und Arbeitshänden, besondere Aufmerksamkeit. Diese waren so konstruiert, dass an ein proximales Grundgerät verschiedene Ansatzstücke befestigt werden konnten, die die Ausführung von handwerklichen Tätigkeiten erlaubten. Abbildung 1 aus: Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte. Hg. von der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Charlottenburg und der Prüfstelle für Ersatzglieder in Berlin-Charlottenburg. Berlin: Springer 1919. 2 Dieses Modell war nicht auf Deutschland beschränkt: Auch der französische Physiologe Jules Amar, berühmt durch seinem arbeitswissenschaftlichen Buch mit dem Titel „Le moteur humaine“ von 1914 hat ein ähnliches System vorgeschlagen [Am16], zu Amar [Ra90]. Ganz ähnliche Systeme, allerdings mit stärkerem Fokus auf die Einrichtung von Arbeitsräumen entwickelte auch Frank B. Gilbreth in den USA, vgl. [Br02]. Voraussetzung dafür war die systematische Analyse von Bewegungsformen: die Beschreibung menschlicher Glieder als mechanisches System, die Klassifikation möglicher Bewegungen, die Charakterisierung der Funktionen des Gliedes nach ‚Freiheitsgraden’, die statistische Auswertung der Bewegungsformen, ihre Beschreibung als Teil einer ‚Bewegungskette’ und ihre abschließende technische Nachahmung. Dies alles zielte auf eine gute Passung zwischen Amputiertem und Prothese, zwischen Prothese und Werkzeug, zwischen Werkzeug und Arbeitsvorgang. Der menschliche Körper wird hier entsprechend Reuleaux’ kinematischer Maschinentheorie als ein System diskreter, ineinandergreifender, austauschbarer Teile konzipiert, das entsprechend zerlegt und wieder zusammengesetzt werden kann und – jedenfalls in der Vorstellung der Ingenieure – entsprechend problemlos mit konkreten Maschinen verschaltet werden müsste, selbst wenn sich dabei die menschliche Gestalt auflöst. Abbildung 2 aus: Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte. Hg. von der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Charlottenburg und der Prüfstelle für Ersatzglieder in Berlin-Charlottenburg. Berlin: Springer 1919. 3 Zu Reuleaux’ Maschinentheorie vgl. [Be02, S. 77ff] und [Sc95, S. 224-257]. Eines der wichtigsten Resultate der Aktivitäten der Prüfstelle war somit die Einführung von einheitlichen Anschluss-Normen für Bandagen und Ansatzstücke, die schon bald als DIN-Norm zur Grundlage der flächendeckenden industriellen Herstellung modularer Prothesen wurde. [BP03] Der Abgleich arbeitswissenschaftlicher, chirurgischer und orthopädischer Wissensbestände in der Prothetik des 1. Weltkrieges war mithin Teil eines experimentell erarbeiteten, konkreten, sozial-technischen Systems der Standardisierung und der Passung, in das der versehrte Körper des Soldaten eingefügt wurde. Dieses System basierte auf einer „Logik der Ersetzbarkeit“, auf der „totalen Austauschbarkeit aller Maschinenteile oder -glieder“ [BP03, S. 147] und sie gehorchte gleichzeitig dem Prinzip der ‚Individualisierung der Prothese’, im Sinne einer möglichst präzisen Passung, die eben deshalb auf die Unterschiedlichkeit der Körper Rücksicht nehmen muss. Dies alles wäre noch weitgehend im Vokabular einer „Mikrophysik der Macht“ [Fo76], die ein Kontinuum zwischen zugerichtetem Soldatenkörper, normierter Bewegungslehre, verteilter industrieller Massenproduktion und Arbeit als ultimativem sozialen Formierungsinstrument herstellt, beschreibbar. Perfektioniert wurde die Kopplung der Funktionssysteme Heer und industrielle Produktion nämlich auch insofern, als eine der Leistungen der Prüfstelle darin bestand die „geistige Vorarbeit und betriebsfertige Einrichtung“ [Ra21, S. 554] einer Prothesenfabrik bereit zu stellen, die nach dem Krieg von (versehrten) abgerüsteten Angehörigen des 3. Armeekorps bewirtschaftet werden sollte.
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